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Interview mit dem Regisseur Ludwig Wüst über ABSCHIED:

Otmar Schöberl: Wie lange hat dich das Projekt „Abschied“ jetzt begleitet?

Ludwig Wüst: Also im Grunde sehr, sehr lange, weil ich von der Geschichte schon seit, schätze ich, dreißig Jahren weiß. Der Ursprung ist, dass es die Geschichte meiner Mutter ist. Meine Mutter hat als Siebzehn-, Achtzehnjährige eine Liebesgeschichte erlebt, die sie ein Leben lang nicht überwunden hat. Und wie jede Liebesgeschichte, die man erzählen kann, die spannend genug ist, scheitert sie natürlich. Sie hatte eine Liebesgeschichte mit einem älteren Mann, der war zwanzig Jahre älter als sie. Sie war siebzehn, achtzehn, er war noch älter, Mitte vierzig etwa. Und sie ist schwanger geworden. Ihre Eltern wollten sie zur Abtreibung zwingen. Meine Mutter hat gemacht, was auch im Film, in der Erzählung vorkommt: Sie hat in einem Geschäft gearbeitet, meine Großeltern mütterlicherseits hatten ein Möbelgeschäft. Da gab es 90 Zentimeter hohe Tische, ein normaler Tisch hat 75 Zentimeter Höhe. Und da ist sie von den 90 Zentimeter hohen Arbeitstischen runtergesprungen. Wie man weiß, hat das nicht den Abortus herbeigeführt, aber zumindest evoziert. Sie hatte einen Abortus. Sie war nicht im Krankenhaus, das war damals, kurz nach dem Krieg, alles nicht so einfach. Und ich wusste von dieser Geschichte schon, bevor ich nach Wien ging. Über meine Schwester. Von meiner Mutter habe ich sie erst gehört ein Jahr vor ihrem Tod. Da bin ich ins Pflegeheim gegangen, um sie nach ihrer Lebensgeschichte zu fragen. Und ich habe meine kleine Kamera aufs Nachtkästchen gelegt; sie hat das gar nicht gewusst, dass ich da eine Kamera laufen ließ. Sie hat mir ihre Lebensgeschichte erzählt. Diese Geschichte war der Schlusspunkt gewesen, der weiterhin ungelöst war.

Ein wesentlicher Punkt, warum ich überhaupt darauf kam, diese Geschichte irgendwann einmal zu verwenden, war eine Familienaufstellung vor über zehn Jahren. Und man mag jetzt halten davon, was man will, aber was mich so frappiert hat, war, dass ich eine Frau auswählte, die meine Mutter darstellte - und während der Aufstellung kam heraus, dass es diesen älteren Mann eben gab, und das ungeborene Kind, einen Sohn. Meine Mutter hat ja neun Kinder geboren, dieser Sohn wäre der Erstgeborene gewesen. Dann kam meine erste Schwester zur Welt, die mit drei Jahren an Lungenentzündung starb. Es folgten all die anderen, und ich dann ganz zum Schluss. Über diese Geschichte meiner Mutter wurde in der Familie nie gesprochen, schon gar nicht in Gegenwart meines Vaters – katholisch, ganz schwierig! -, und durch dieses Ereignis, dieses Interview meiner Mutter (das ist jetzt sieben Jahre her), habe ich den Entschluss gefasst, das war noch vor „KOMA“, dass ich daraus was machen möchte. Und da Claudia Martini in „KOMA“ mitgespielt und auf eine gewisse Weise meine Mutter gespielt hat, habe ich ihr gesagt: So, ich hab‘ hier wieder ‘ne Geschichte meiner Mutter, interessiert dich das? Und das war konkret vor zwei Jahren. Und vor ca. einem Jahr haben wir dann ganz konkret gesprochen miteinander. Ursprünglich war das nicht als Langfilm geplant, sondern als Episode in dem Projekt „Heimat-Film“. Und es sollte eine halbe Stunde nicht überschreiten. Während der Proben, dank der Kreativität meiner beiden Kolleginnen Claudia Martini und Martina Spitzer, haben wir festgestellt, dass dieser Hauptteil schon fast eine Stunde lang ist. Da wusste ich, dass Gefahr im Verzug ist: Ich muss handeln. Alles, was setmäßig geplant war, habe ich dann quasi über den Haufen geworfen und in sehr kurzer Zeit ein Szenario entworfen für einen Langfilm. Zusätzlich zu dieser ersten, langen Einstellung, die durchaus eine Anleihe an Michael Snows „Wavelength“ darstellt, habe ich dann innerhalb sehr kurzer Zeit diesen zweiten Teil geschrieben, bestehend aus 59 Einstellungen, wovon wiederum 23 durchaus als Zitat aus Antonionis „L’eclisse“ zu sehen sind.

Otmar Schöberl: Du hast in „Abschied“ erstmals mit einer Co-Drehbuchautorin, Claudia Martini, gearbeitet, einer der Hauptdarstellerinnen des Films. Wie hat sich das gestaltet?

Ludwig Wüst: Es war klar, dass das Claudias Figur werden muss. Ich hab‘ ihr einen Rahmen vorgegeben, die Umstände, dass es ein Dialog ist mit Martina Spitzer, etc. Dass Claudia jemand ist, der sich gern „eingräbt“ mit seinen Ideen, habe ich gewusst. Sie hat ihren Text auch selbst geschrieben. Es ist ihre Figur, und ich habe diese Entwicklung begleitet, reflektiert, kritisiert: Nein, falsche Richtung, eher da… Und bei den Proben haben wir das dann verfeinert. Als das Ganze größer geworden ist, war klar, dass es einen zweiten Film geben muss. Dass der stumm war, das ging wirklich ganz, ganz schnell. Aber ich hab‘ ihr quasi den Ball zugeworfen, sie hat entwickelt, ich hab‘ den Ball wieder bekommen und das Ganze zu Ende geführt. Speziell in diesem Fall war es mehr an Mitarbeit als in „KOMA“ oder bei „Tape End“, und da dachte ich mir, um das auch anzuerkennen, ihr eine Co-Autorenschaft zu geben wäre wichtig. Fifty-fifty.

Letztendlich hat das mit meinem grundlegenden Konzept zu tun, dass ich ja immer mehr dahingehend arbeite, mich als Regisseur zu eliminieren. Ein weiterer Schritt wäre jetzt z.B., bei der Premiere, beim Publikumsgespräch gar nicht dabei zu sein. Und auf gewisse Fragen würde es keine Antwort geben, weil das nur ich weiß. Bei „Heimatfilm“, weil es so intim ist, wäre eigentlich mein Wunsch, dass ich da wirklich nicht darüber spreche. Definitiv nicht. Das geht nicht. Ich könnte es natürlich auch so machen wie Mike Leigh: Der hat die Leute getroffen, während der Diskussion ist eigentlich erst der Stoff, das Thema formuliert worden. Und dann wurde das in wochen-, monatelanger Arbeit entwickelt und dann gedreht. Zum Schluss steht aber dann: „Buch: Mike Leigh“. Das ist eine Entscheidung. Regie, was ist Regie? Letztlich weiß ich, dass es mein Einfluss ist, und ich arbeite sehr genau. Für mich ist Sprache Körper und Wörter. Die Autorenschaft eines Wortes ist immer noch etwas sehr Heiliges. Letztendlich ist für mich das Wort höchstens so wichtig wie die Bewegung oder das Bild. Aber es ist nie die Hauptsache. Aber in diesem besonderen Fall war mir klar, dass die Claudia sich das wirklich verdient hat. Sie hat recherchiert, sie hat sich bei Ärzten erkundigt, sie war bei Therapeuten, sie hatte einen Strasberg-Coach, um das wirklich durchzuspielen. Sie hat eigentlich ihre gesamte Figur, von der wir nur einen Bruchteil oder den Hauptteil sehen im Film, durchgespielt. In den Arbeitsseminaren. Ich hab‘ das erst später erfahren, ich hätte das gerne gefilmt. Sie hat erzählt, sie hat dann gespielt, wie sie nach Hause kommt nach dem Abgang im Wald, und dass sie im Waschkeller das Blut weggewischt hat. Das hat sie gespielt, und sie hat nur geweint. Das waren irre Sachen.

Ich glaub‘, dass das auch für Claudia eine besondere Arbeit war, und ich hab mich auch schon bei ihr bedankt, und sie bei mir. Bei einem kommerziellen Film kann man das ja gar nicht machen. Es ist letztlich die Fortführung unserer Arbeit, die dritte mittlerweile, in der wir durchaus sehr an die Substanz gehen. Das ist eben nur möglich in so einer Ausnahmesituation, wie ich sie schaffen kann. Und es ist ein weiterer Beweis, dass Claudia Martini einfach eine absolut hervorragende Schauspielerin ist. Das wird oft vergessen. Sie hat in den letzten Jahren nicht so viel zu spielen gehabt, und ich wünsche ihr natürlich von Herzen, dass sie jetzt mit dieser Rolle wieder Aufmerksamkeit erregt, dass sich auch andere Filmemacher um sie bemühen. Weil sie wirklich auch eine Ausnahme ist als Darstellerin.

Wir haben das im August geprobt und dann drei Mal gedreht. Mit der Alexa, der „Amour“-Kamera, die Haneke hatte. Zweimal hintereinander haben wir das durchlaufen lassen. Wie wir drehten, das war eine Anspannung! Ich kenne niemanden anderen, der immer so lange Sequenzen dreht, fast eine Stunde ohne Schnitt. Beim Durchspielen darf man sich da keinen Fehler erlauben. Das traut sich sowieso niemand. Das war wirklich ein Grenzgang. Deswegen ist es auch jetzt mal der letzte Film, der so ohne Schnitt arbeitet. Weil es so viel Kraft kostet. Nur um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wir mussten natürlich mitten im Film unterbrechen, damit wir die Chip-Karte wechseln, um die hohe Auflösung zu bekommen. Und ich wusste vom vorigen Mal, dass wir ein Fenster von plus-minus 1 Minute haben. Und plötzlich ist dieses plus-minus 1 Minute geschrumpft auf fünf Sekunden. Das heißt, wenn Claudia Martini fünf Sekunden zu spät aufgestanden wäre, hätten wir das alles wegschmeißen können. Alles. Und das ist eben eine enorme Anstrengung und Anspannung, das durchzuhalten. Fünf Sekunden!

Otmar Schöberl: Wie macht man das, ist da irgendwo ein Timer eingeblendet, den man sehen kann?

Ludwig Wüst: Nein, das ist reines Gefühl. Also wir sehen das, aber sie sehen’s nicht. Aber da ich sehr präzise probe… Zufälligkeiten sind fünf Prozent in diesem Film. Der Rest ist absolut präzise geprobt. Alles. Und sie schaffen’s eben, das zu erschaffen: Nicht wie eine Theateraufführung, die mal gut geht oder auch nicht. Gerade durch diesen Anspruch, zu wissen: Es geht hier um alles. Und es ist nicht vorgesehen, dass wir eine Wiederholung machen. Das ist nicht vorgesehen. Und deswegen hat das Ganze dann eine gewisse Brüchigkeit und Lebendigkeit. Es pulsiert. Und Martina Spitzer war eine kongeniale Partnerin für die Geschichte, mit ihrer extrem trockenen Art. Diese Repliken, die sie da setzt… das ist ja der Hammer. Sie stellt ein Gegengewicht her, denn Claudia Martini geht ja emotional auf einem Hochseil spazieren. Martina Spitzer fängt sie wieder ab.

Es ist alles wahnsinnig intim. Und aus diesem Grund habe ich dann auch die anderen Sequenzen mit einer Überwachungskamera gedreht. Man sieht ja täglich Leute in der Überwachungskamera. Und in diesem Fall sieht man eben vorher eine sehr intime Geschichte, das heißt, es ist völlig exponiert. Ich weiß plötzlich alles über diese Frau und sehe sie inmitten einer Menschenmenge. Nackt, quasi. Und der Schluss ist für mich die Stelle, an der alles zur Ruhe kommt. Wo eine Welt zusammengebrochen ist, und sie marschiert eben zwischen den Trümmern ihrer alten Welt hinaus ins Freie, in ihr altes neues Leben zurück. Und sie geht zurück in ihr Leben, das kein schlechtes Leben war, das sie 30 oder 35 Jahre bisher geführt hat. Und warum soll sie nicht zurückkehren? Warum soll sie sich jetzt hier sich einen jungen Liebhaber nehmen und nach Florida abhauen? Was ja völliger Schwachsinn wäre, völlig unrealistisch… Nein, sie kann jetzt ihre Liebe, ihre große Liebe begraben, abschließen, und sagen: Okay, ich hab‘ noch ein paar Jahre, einige gute Jahre, und bejah‘ das. Sie geht zurück und setzt sich in den Zug, und dieser Prozess, wie sie da im Zug sitzt, und was da in ihrem Gesicht passiert… das ist ja unglaublich. Und ich weiß, dass das für viele, ich glaub‘ sogar Frauen, ein Stein des Anstoßes sein wird, dieser Prozess, zu ersehen, dass jemand sagt: Ja, ich akzeptiere mein altes Leben. Jetzt erst eigentlich, ja? Das hat nichts mit Spießigkeit zu tun oder mit Mutlosigkeit, mit Resignation, überhaupt nicht. Es ist einfach eine Bejahung der Gegenwart. Und das möchte‘ ich erzählen, das ist mir ganz wichtig.

Wir sind da losgefahren vom Hauptbahnhof nach Breitenbrunn. Claudia wohnt auch da draußen. Das ist ihr Haus! Und sie hat darum gebeten: Nehmen wir das bitte als Drehort! Das war ja gar nicht meine Idee. Und wenn sie abgeholt wird nach der Szene im Haus, in der Wohnung von Martina: Das ist ihr Mann! Den man jetzt nicht sieht, aber es ist er im Auto. Und sie nimmt das Haus in Besitz. Sie marschiert in ihrem Abendkleid dahin, macht die Tür auf, reißt die Fenster auf, holt das Geschirr heraus. Sie nimmt das richtig in Besitz. Und dann kommt eben dieser Rückblick auf diese Ruinenlandschaft, wo Spuren von gescheiterten Existenzen zu lesen sind. Und zwar querbeet, eigentlich sind’s Filmzitate aus allen möglichen Filmen und auch aus Kubricks „2001 – A Space Odyssey“. Und zwar, wo sie durch die Brücke geht: Diese Brücke sieht aus wie ein Rohbau, wie Steinzeit eigentlich. Man sieht vorher Claudia im Abendkleid in der Steinzeit, dann kommt ein Schnitt, und dann sieht man sie, gleiche Position noch einmal, in einem High-Tech-Durchgang der U-Bahn. Die gleiche Art Architektur, nur ist es jetzt High-Tech. Vorher ist es Steinzeit. Das ist wie mit dem Knochen, den der Affe bei Kubrick in die Luft wirft, und dann wird plötzlich das Raumschiff aus dem Knochen. Der Mensch aber ist der gleiche.

Also wie verhält sich der Mensch in der Steinzeit, und wie nah ist er der Steinzeit, und was ist mit ihm im Digital-Zeitalter, im High-Tech? Das hat was ausgelöst, diese 23 Einstellungen. Die Entscheidung, das zu sehen, diese Brücke zu sehen, diesen Rohbau, und zugleich diesen Durchgang in der U-Bahn, den ich fast täglich seh‘, weil ich ja dort wohn‘, und ich wollte bewusst das haben, diesen gleichen Ausschnitt, mit der Steinzeit-Brücke und mit dem Hightech-Durchgang, das war für mich der Clou für alles, das ich zeigen will. Also wie nah sind wir in unserer hochtechnisierten Welt, wo alles delegiert ist, alles, wie nah sind wir dem Unberechenbaren, dem Steinzeitlichen, wo es nichts gibt? Deshalb ich hier die Großstadtwüste – das heißt: Großstadt – Schrägstrich – Wüste - ich hab‘ die Häuser, die Burgen, und dann hab‘ ich nur noch die Wüste, es gibt kein Zwischenland. Und ich glaub‘, es ist schon sehr in unserer Zivilisation so, dass man für alles eine Antwort hat, aber wenn plötzlich was ausfällt, bist du verloren. Wenn der Strom weg ist, bist du verloren. Das ist unsere Situation. Du kannst nichts machen.

Das ist wirklich ein Problem unserer Zeit: Wir sind derart abgesichert, dass, falls irgendetwas passiert, nichts mehr geht. Auf der emotionalen Ebene ist es genauso: Wo werden noch Gespräche geführt? SMS werden verschickt. Wo ist da überhaupt noch ein Dialog? Außer beim Therapeuten. Und dem erzählt man nur die Hälfte – wenn überhaupt. Es geht in diesem Film auch um die Sollbruchstellen in unserem Leben. Ich glaub‘, ein Nebeneffekt dieses Films ist, dass ich schätze, dass einige Männer mehr über ihre Frauen wissen nach dem Film, oder auch darüber, wie Frauen ticken. Ich bin mit acht Frauen aufgewachsen, deswegen interessiert mich ja das Thema. Und eben auch starke Frauen. Das ist ganz wichtig. In unserer Familie hatten wir sehr starke Frauen, und gerade in der Generation der Kinder meiner Schwestern gibt es starke Frauen und leider eher schwache Männer.

Otmar Schöberl: wie ist die Heimkehr der Frau zu verstehn?

Ludwig Wüst: sie bejaht jetzt erst ihr Leben – also wirklich, aus ganzem Herzen. Das Leben, das kein schlechtes ist, kann sie jetzt bejahen. Sie hat abgeschlossen mit dieser Liebesgeschichte, die letztendlich eine Kopf- und Herzsache war, und die vierzig Jahre vorbei ist. Die bis vierzig Jahre später immer noch wie da war. Die hat sie jetzt komplett abgeschlossen. Und sie kann jetzt wirklich noch mehr Ja sagen zu diesem Mann, von dem sie weiß, dass er sie liebt. Jetzt kann sie ihn erst wirklich lieben. Vorher sagt sie ‚Er war eh ein sehr guter Vater‘, ‚Ich hab‘ ihn eh gern gehabt‘ oder ‚Dann hab‘ ich mich beeilt, sonst ist er weg‘ – das sind alles Dinge, wo man als Mann denkt ‚Wie bitte?‘ Jetzt kann sie das alles viel mehr bejahen. Das ist sehr wichtig. Es ist nichts Resignatives. Obwohl viele Frauen, das weiß ich aus den bisherigen Reaktionen einiger Frauen, die ich kenne, und von denen ich überrascht war, eigentlich damit kämpfen, das zu akzeptieren, diese Schlichtheit, die Einfachheit dieser Szene, auch ‚Ja‘ zu sagen, diese Heimkehr.

Otmar Schöberl: Warum ein schleichender Zoom von 45 Minuten Länge wie in Michael Snows „Wavelength“?

Ludwig Wüst: Für mich ist „Wavelength“ ein Film, der Zeit physisch erfahrbar erzählt. Und zwar in der Form, dass die Zeit komplett brutal ist, sie bleibt nicht stehen. Unbarmherzig. Egal, was ist, die Zeit bleibt nicht stehen. Und das war mein erster Gedankengang. Wenn ich die Lebensgeschichte einer Frau erzähle, in diesem Fall, was Claudia erzählt, das sind vierzig Jahre eines Lebens. Das heißt, diesen Zeitraum, das war für mich klar, da brauch‘ ich etwas Radikales, das von A nach B geht. Und aus.

Otmar Schöberl: Das muss sich auch formal niederschlagen.

Ludwig Wüst: Ja. Abgesehen davon, dass ich natürlich immer nach Konzepten suche, um meine Obsession mit One-Take-Sequenzen zu befriedigen. Bei „Tape End“ war’s ein Tableau, bei „Haus meines Vaters“ war’s ein Gang, jetzt eben die „Wavelength“-Geschichte. Wobei mich der Film natürlich seit zehn, 15 Jahren immer fasziniert, ich schau‘ ihn mir auch jedes Jahr im Filmmuseum an. Jedes Jahr. Um das zu spüren: Was macht das mit mir? Und das ist eigentlich etwas sehr Unangenehmes.

Und hier ist es ja so, dass der „hot chair“, um den’s geht im Film, erst einmal besetzt ist von Martina. Dann ist der Platz aber leer, das heißt, auch der „hot chair“ ist leer, und der Zoom geht weiterhin auf diesen chair, wo dann die confession von Claudia passiert. Und erst nach einer halben Stunde nimmt sie dort Platz. Und da hat man schon den Zoom, der schon über die Hälfte geht, bemerkt. Jeder, der ein bisschen mitdenkt, hat da schon gemerkt, dass sich da was radikal verändert hat im Film, nämlich dass der Raum schon viel kleiner geworden ist. Und ein Kollege von der Diagonale hat das sehr schön ausgedrückt: Die Erzählung ist wie eine Schlinge, die sich um den Hals langsam zuzieht. Und das stimmt. Unaufhaltsam. Deswegen hat mich das interessiert.

Und ich wollte unbedingt einen Digitalzoom haben. Wir haben das Ganze in der Totale gedreht, und ich wusste, dass ich später einen Digitalzoom machen werde. Aber ich wollte ihn nicht vorher machen, denn ich wollte die Bewegung der Kamera nicht spüren lassen beim Spielen. Eine Dolly… hätten wir alles gehabt. Der Ursprung war eine Dolly-Fahrt von drei, vier Metern. Wir hätten das auch woanders gedreht, im Studio usw., im Gasometer – wäre alles möglich gewesen. Da hab‘ ich überlegt, dass die Kamera von oben runterkommen könnte. Und ich hab‘ dann aufgrund der Entwicklung des Stoffes entschieden erstens, es bei mir zu drehen, also quasi in einer gewohnten, einer bewohnten Wohnung, wo man spürt, da wohnt jemand, wobei wir behaupten, dass das Martina ist. Und, dass es einen Digitalzoom gibt. Das heißt, ich spüre vorher nichts, auch die Schauspieler nicht, sie spüren gar nicht die Kamera. Die sind ganz bei sich. Erst der Zoom stellt das her und wird dadurch noch abstrakter und noch brutaler, als wenn das physisch erfahrbar gewesen wäre, dass sich da eine Kamera langsam nähert. Ich hätte einen Motor gehabt, verbunden mit der Dolly, dass sie sich wirklich ganz gleichmäßig 45 Minuten lang nähert. Das haben wir alles vorher eliminiert und entschieden: So machen wir’s!

Und dass es am Schluss wieder aufgeht, ist erst dann entstanden, nachdem wir’s gedreht hatten. Ursprünglich sollte es damit enden, dass Claudia dort sitzt, eine Zigarre raucht und dass da ein Close ist. Aber wir haben während des Schnitts, der ja kein Schnitt war, sondern eben die Festlegung dieses Zooms, da schien es uns eben anders besser: Wie Andy Warhol sagt: „From A to B and back again.“ Man geht wohin, und dann geht der Zoom, in fünf Minuten nur, vom Close-Up mit einer rasenden Geschwindigkeit im Vergleich zu vorher auf. Da rast das geradezu nur daher. Das sind nur fünf Minuten. Fünf Minuten sind lang im Film. Aber als Zuschauer denkt man: Was ist das? Zeit wird anders erfahrbar in diesem Film. Weil ich eine Zeit-Metapher verwende, und zwar eine graphische Zeit-Metapher. Das spricht alles für „Wavelength“ als Form.

Otmar Schöberl: Der Film beginnt mit Martina Spitzer, von der der Zuschauer denkt, dass sie die Hauptfigur sein wird. Die Hauptfigur ist dann aber Claudia Martini.

Ludwig Wüst: Genau. Auch das ist Absicht. Ich will den normalen Filmgesetzen widersprechen. Unbedingt. Meine größte Sehnsucht wäre, bei jedem Film erneut dem Zuschauer zu sagen: Das, was du siehst, ist Kino. Und du darfst nicht wissen, was Kino heißt. Du musst da hineingehen, und du weißt nichts, du weißt gar nichts. Du hast keine Idee, was das sein kann. Diese normalen Gesetzmäßigkeiten muss man untergraben, fast irreführen. Nein, das war ganz klar. Lars von Trier hat das ja bei einigen Filmen gemacht, bei „Element von Crime“ auch, wenn der Professor spricht, erwartet man den Schuss, es passiert aber gar nichts. Hier war es einfach formal so, dass ich nicht von Anfang an sagen wollte: Das ist unsere Hauptfigur, sondern bewusst sagen wollte: Martina könnte es sein. Es gibt einen Moment, wo Martina erzählt von ihrer Tochter, die vielleicht schon tot ist, die in Spanien lebt. Und die haben keinen Kontakt mehr. Und dann sagt Martina nur noch: „Johanna…“ Und jetzt glaubt man, sie fängt mit ihrer Erzählung an, die sie als Hauptfigur wiedergeben könnte. Aber da sie keine Hauptfigur ist, sagt sie einfach nur: „Johanna, jetzt rauchen wir eine.“ Und beide verlassen den Frame des Bildes und gehen zum Fenster. Und man hört sie nur reden darüber, dass Rauchen ungesund ist, dass sie süchtig und keine Genussraucherin ist. Und dann kehren beide zurück, das eigentliche Drama beginnt mit Claudia.

Otmar Schöberl: Der Film beschließt mit einer Reihe von Einstellungen, die Zivilisationsmüll zeigen. Das erinnert an Antonioni, „L’eclisse“, aber welchen Bezug hat das zur Geschichte davor?

Ludwig Wüst: Sie marschiert aus den Verwüstungen ihres Vorlebens heraus. Das sind alles Fragmente von zerbrochenen Utopien, Träumen, Glücksvorstellungen, Lebensentwürfen, Existenzen, die eingangen sind. Und sie hat da einfach die Kurve gekratzt noch. Zum Glück war’s nicht Winter, aber da hätt‘ sehr viel passieren könne. Und sie marschiert jetzt einfach hinaus aus dieser Wüstenlandschaft in ihr altes Leben, das jetzt ihr neues Leben ist, und dass sie jetzt erst bejahen kann.

Ich muss sagen, es ist eigentlich ganz schwierig, eine wirklich gültige Interpretation für diese Bilder zu finden. Ich hab‘ mich eigentlich intuitiv dazu entschieden, weil sie ja diese Nacht dort verbringt, dann noch einmal zurückzukehren, und siehe da, da waren schon mehrere Leute. Diese Schlafstätte Claudias, da war auch jemand, den ich gebeten habe, ein paar Betonblocks weiter die Nächte zu verbringen, damit wir dort drehen können. Aber im Grunde… ich möchte da eigentlich gar nichts dazu sagen. Der Film kommt zur Ruhe an der Stelle, wo sie ins Haus geht, und wir zurückkehren und diese Spuren sehen. Dieser Zug, den wir vorher noch sehen als Zug, ist am Schluss nur noch ein Geisterzug. Und ich höre, wie der näherkommt, aber in der Sekunde, in der er eigentlich optisch ins Bild kommen müsste, stehe ich als Zuschauer unter der Brücke, und der Zug donnert irre laut über mich hinweg. Und danach siehst du unter dieser Brücke, dass sie nicht zusammengestürzt ist, und dass wieder Menschen weitergehen. Es hat eher metaphorisch mit den Lebenskatastrophen zu tun, die jeden irgendwann einmal erwischen, die über uns hinwegdonnern, und wenn unser eigenes Gebäude stark genug ist, werden wir nicht zerbrechen daran. Das ist eine Sollbruchstelle. Ein Arbeitstitel des Films war auch „Sollbruchstelle“, und die Sollbruchstelle dieser Frau war eben diese Geschichte, die sie nie überwunden hat. Da sind also viele Interpretationen möglich. Für mich waren diese „wasteland-Bilder“ eine schöne Metapher für das Ganze.

Otmar Schöberl: Gab’s mehrere Alternativtitel zu „Abschied“?

Ludwig Wüst: „Close Up“ war ein Titel, „Sollbruchstelle“ und eben „Abschied“.

Otmar Schöberl: Abschied von der Liebesgeschichte.

Ludwig Wüst: Genau. Abschied von einem alten Leben auch. Deshalb auch das Bild auf dem Filmplakat, wo sie im Zug sitzt mit dem Kleid und der Perlenkette. Sie sitzt im Zug und freut sich, und sie fährt weg, sie lässt etwas zurück, dabei fährt sie aber nur nach Hause. Ja, Abschied von einer ganz wichtigen Sache. Keine Ahnung, ob man am Ende eines Lebens sagen kann, man habe manches aufgearbeitet. Ich glaube, meine Elterngeneration hat gar nichts geschafft, die sind dumm gestorben. Ich finde, meine Generation ist die erste, die in der Lage ist, Dinge aufzuarbeiten.

Otmar Schöberl: Reflektiv.

Ludwig Wüst: Genau. Nicht alles. Meine Eltern noch gar nicht. Und die Generationen vorher waren nur Kannibalen, Vergewaltiger, Mörder und Totschläger. Wir sind erst in der Lage, zu reflektieren. Leider

Otmar Schöberl: Also die Zivilisation ist deiner Meinung nach schon fortgeschritten?

Ludwig Wüst: Nicht sehr viel.

Otmar Schöberl: Ein bisschen.

Ludwig Wüst: Ganz wenig. Also eigentlich fangen wir erst an, das Wort „Zivilisation“ gebrauchen zu können. So langsam. Wir sind noch nicht sehr weit. Wir wissen ja nicht einmal, warum wir hier sind. Das wär‘ ein Aspekt, um dann darauf zu kommen, wer wir sind. Das ist ein wichtiges Thema für mich, immer mehr. Heiner Müller hat das sehr schön formuliert: „Ich will auf keinen Fall wissen, wer ich bin. Ich halte es mit Goethe, ich denke nicht über mich nach.“ Das ist sehr romantisch, aber ich glaube, dass es nicht sinnvoll ist. Also abgesehen davon, dass wir gar nicht wissen, warum wir hier sind. Um in irgendeiner Form etwas über uns herauszufinden, müssen wir versuchen, zu erkennen, was wir sind. Sonst seh‘ ich schwarz. Wenn ich mal den Lebenssinn reduziere auf eine einfache Formel, dann hat’s natürlich damit zu tun, eine Form von Glück zu finden. Denn ich bin nicht gefragt worden, hier zu sein. Niemand wurde gefragt. Deshalb wäre wenigstens der Ansatz, ein Aspekt, von dem man sagt, dafür lohnt es sich, zumindest den Versuch zu starten, herauszufinden, wer man ist.

Otmar Schöberl: Um zu wissen, was man braucht.

Ludwig Wüst: Ganz genau. Und ein maßgeblicher Teil in diesem Film ist, dass die Frau nachher schon mehr als vorher weiß, wer sie ist. Trotz Ende 50. Und das ist auch schon wieder so eine Sache. Ich bin jetzt bald 50, und ich weiß ein bisschen. Aber bis 40 wusste ich gar nichts, oder fast gar nichts. Und es ist natürlich auch brutal, zu sagen, ich muss einmal 40 Jahre alt werden, um ein bisschen was vom Leben zu verstehen. Ein bisschen was. Und da ist die Hälfte schon vorbei. Minimum. Und wer kann das? Von meinen Eltern weiß ich, die sind achtzig geworden und sind dumm gestorben. Weil sie eben gar nicht in die Nähe einer Reflektion gekommen sind, nicht annähernd. Und die ist für mich ein wesentlicher Punkt, diese Reflektion. Ich hätte das nicht gekonnt, wenn ich nicht weggegangen wäre.

Otmar Schöberl: Von zuhause.

Ludwig Wüst: Von zuhause. Und auch, dass ich alleine leb‘ und keine Familie hab‘, zwingt mich geradezu, zu reflektieren, wer ich bin. Täglich herauszufinden, wer ich bin. Denn ich bin, wie man sagt, ein Solitär.

Otmar Schöberl: Danke für das Gespräch.

Ludwig Wüst, Filmemacher und Otmar Schöberl, Journalist, Wien 2014



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